Steigt mein Lohn durch die Digitalisierung?
In Kürze startet der E-Commerce-Riese Amazon auch in der Schweiz. Die Erfahrungen in anderen Ländern zeigen: Der Amazon-Effekt sinkender Preise ist so massiv, dass er sich sogar in der Inflationsrate zeigt. Ökonomen warnen, dass die Digitalisierung wichtige Kennzahlen wie Inflation und Produktivität verzerren könnte.
„Dieser Artikel kann nicht in die Schweiz geliefert werden.“ Diese Nachricht kennen Schweizer Online-Shopper, die versuchen, beim weltgrössten Online-Händler Amazon Produkte zu ordern. Doch nun hat der E-Commerce-Platzhirsch einen Vertrag mit der Schweizerischen Post abgeschlossen, durch den Zoll-Beschränkungen wegfallen. Das gesamte Amazon-Sortiment wird damit, von deutschen Warenlagern aus, auch innerhalb der Schweiz innert 24 Stunden lieferbar.
Die potenziellen Kunden freut´s: Schliesslich liegen die Amazon-Preise Studien zufolge nicht nur deutlich unter denen des lokalen Einzelhandels, sondern auch unter denen der etablierten Schweizer Online-Händler. In der Schweizer Nationalbank hingegen dürfte mancher Analyst den Markteintritt des Online-Händlers eher besorgt betrachten. Denn der Effekt der Niedrigpreise grosser Internet-Einzelhändler wie Amazon gilt Zentralbankern in aller Welt als Treiber einer digitalen Deflation, deren Auswirkung auf volkswirtschaftliche Kennzahlen noch nicht vollständig bekannt ist. Die Notenbanken kämpfen seit Jahren mit allen Mitteln gegen eine zu niedrige Inflation. Auch in der Schweiz hatte sich nach Jahren der Deflation gerade erst eine leichte Trendwende angekündigt. Könnte der Amazon-Effekt diese Entwicklung in Richtung geldpolitischer Normalität nun wieder zunichtemachen?
Dass ein Effekt auf die Preise schweizweit spürbar wird, ist nicht unwahrscheinlich. Im Jahr 2017 setzte Amazon rund 600 Millionen Franken in der Schweiz um. Experten gehen davon aus, dass das Unternehmen diesen Wert in den kommenden drei Jahren um den Faktor vier steigern wird, wenn nun sämtliche 300 Millionen Artikel des Händlers in der Schweiz lieferbar werden. Wenn man davon ausgeht, dass der Markteintritt des US-Konzerns ähnliche Auswirkungen haben wird wie in anderen Ländern, bedeutet das:
Auch andere Online-Händler und stationäre Detailhändler werden in einen starken Preiswettkampf gezogen, weil sie mit Amazons Niedrigpreisen mithalten müssen. Kunden haben Amazon-Preise via Smartphone immer im Blick – diese Transparenz übt Druck auf andere Händler aus.
Wie durchschlagend der Amazon-Effekt auf die Preise sein kann, zeigt eine Analyse der japanischen Zentralbank: Die dortigen Währungshüter gehen davon aus, dass Amazon die Inflation im Land um 0,1 bis 0,2 Prozent pro Jahr drückt. Zwar kämpft das Land seit langem gegen Deflation – nicht erst, seit Amazon auf der Bildfläche erschienen ist. Der Online-Händler verstärke den Deflations-Trend jedoch noch weiter.
Immer mehr Ökonomen fragen sich angesichts solcher Entwicklungen, ob die etablierten Kennzahlen, an denen sich Notenbanken, Politiker und Wirtschaftsforschungsinstitute orientieren, und die auch für Lohn- und Tarifverhandlungen eine wichtige Orientierungsgrösse sind, in Zeiten der Digitalisierung überhaupt noch aussagekräftig sind. Der Amazon-Effekt ist dabei nur einer von mehreren Digitalisierungs-Trends, die verzerrend auf ökonomische Kennzahlen wirken. Auch Trends wie der zu einer Sharing-Ökonomie, bei der Dienstleistungen und Produkte umsonst durch Privatleute angeboten und getauscht werden, wirkt sich auf Kennzahlen aus. Statistiker räumen ein, dass sie diese Effekte noch nicht vollständig erfassen können, und arbeiten an neuen Methoden und Werkzeugen, um die Folgen der Digitalisierung korrekt abzubilden.
Nun könnte man sagen: Das ist ein Problem der Statistiker, nicht der Verbraucher und Arbeitnehmer. Für sie wirken all diese Effekte schliesslich erst einmal positiv: Für sie ist es kein Problem, wenn viele Produkte und Dienstleistungen leichter zugänglich und billiger werden. Im Gegenteil: Erstmal ist Deflation für sie eine tolle Sache. Denn bei sinkenden Preisen kann man sich, bei gegebenem Einkommen, immer mehr leisten. Akteure der Digitalwirtschaft wie Amazon, das Taxi-Unternehmen Uber, Online-Lieferdienste wie Foodora oder Wohnungs-Sharing-Dienste wie AirBnB sorgen allerdings nicht nur dafür, dass Preise sinken – sondern auch viele Löhne.
Beim Amazon-Markteintritt in der Schweiz zum Beispiel gilt es zu bedenken: Amazon wird die Schweiz aus Lagern in Deutschland beliefern. Die Löhne sind dort sehr viel niedriger als in den Logistik- und Lagerzentren in der Schweiz. In Deutschland steht Amazon wegen seiner Niedriglöhne bereits seit langem in der Kritik. Auch die Löhne der Paketboten bei den Postdienstleistern sind in Deutschland durch die Marktmacht des Online-Lieferdienstes unter Druck geraten. Inzwischen baut Amazon in einigen Grossstädten sogar einen eigenen Lieferdienst auf. Amazon und andere Digital-Unternehmen können also nicht nur die Preise von Konsumgütern beeinflussen, sondern auch das Lohnniveau in ganzen Branchen.
Ein weiterer volkswirtschaftlicher Effekt der Digitalisierung hat ebenfalls einen Einfluss auf Arbeitnehmer. So führt die Digitalisierung etwa zum sogenannten Produktivitätsparadoxon: Die Produktivität steigt langsamer als Volkswirte erwarten. Obwohl wir immer mehr digitale Technologie nutzen, die die Arbeitswelt schneller und effizienter macht, steigt die gesamtwirtschaftliche Produktivität in den meisten Industrieländern kaum. Es gibt verschiedene Theorien, woran das liegt. Eine davon lautet: Unternehmen müssen erst einmal viel Geld ausgeben, um Mitarbeiter zu schulen, Know-how aufzubauen, neue Infrastrukturen und Abläufe zu schaffen. Die Produktivität wird daher erst zeitverzögert steigen – wenn die relevanten Infrastrukturen, Prozesse und Abläufe geschaffen wurden, um das Potenzial digitaler Technologien vollständig zu nutzen. Andere Beobachter sagen: Die wirklich produktivitätstreibenden Innovationen, wie etwa Künstliche Intelligenz, Robotik und 3D-Druck, sind noch nicht weit genug entwickelt.
Woran auch immer es liegen mag, dass ökonomische Kennzahlen wie Produktivität und Inflation sich anders entwickeln als Ökonomen es erwarten: Fakt ist, dass sich diese Kennzahlen auf die Löhne auswirken. Produktivitäts- und Inflationsdaten sind mit die wichtigsten Faktoren in Tarifgesprächen. Schon jetzt berufen sich Arbeitgeber in der Schweiz darauf, dass keine Lohnerhöhungen nötig seien, weil die Deflation der vergangenen Jahre ja ohnehin zu Reallohnsteigerungen geführt habe. Kurzfristig sorgen die Digitalisierung und der Markteintritt mächtiger Online-Konzerne wie Amazon also dafür, dass Arbeitnehmer sich mehr für ihr Geld kaufen können. Wie der Effekt der Digitalisierung auf die Lohnentwicklung aber mittel- und langfristig aussieht, ist längst noch nicht ausgemacht.