Fachkräftemangel - Wo sind die Mitarbeiter? / Lohncheck
In der Arbeitswelt scheint es nur noch ein Wort zu geben: Fachkräftemangel. Überall sind Stellen unbesetzt, unabhängig von der Branche. Aber warum ist der Mangel so gross und wo sind alle hin?
Die Zahl der offenen Stellen in der Schweiz hat Rekordniveau erreicht. 114.000 Posten waren laut Bundesamt für Statistik im ersten Quartal dieses Jahres unbesetzt, im Vorjahreszeitraum waren es gerade einmal 71.000. Das Unternehmen x28, das Stellenangebote von Personaldienstleistern und Unternehmenswebseiten auswertet, kommt auf eine noch höhere Zahl: rund 250.000. Eine mögliche Ursache der Diskrepanz könnte sein, dass Unternehmen mehr Stellen ausschreiben, als sie akut besetzen müssen, um ihren Betrieb aufrecht zu erhalten. Das hat den Zweck, Mitarbeiter langfristig an sich zu binden und künftigen personellen Engpässen vorzubeugen. So oder so steht aber fest: Noch nie waren so viele Stellen in der Schweiz unbesetzt. Das liegt aber nicht an einer enormen Kündigungswelle (wie es sie seit Pandemiebeginn etwa in den USA gegeben hat). Die Zahl der Jobwechsler hat sich in den vergangenen Corona-Jahren kaum verändert. Der Think-Tank Avenir Suisse hat das mithilfe der Schweizer Arbeitskräfteerhebung ausgerechnet. Dafür sind die Berufs- und Branchenwechsel etwas gestiegen. Von 2012 bis 2019 haben rund 36 Prozent derjenigen, die selbst gekündigt haben, Beruf und Branche gewechselt, 2021 waren es bereits 41 Prozent. Das ist nicht viel mehr als in den Vorjahren, könnte den Mangel aber doch verstärkt haben.
Gastgewerbe, IT und Maschinenbau sind besonders betroffen
Denn in der Pandemie hatten es einige Branchen besonders schwer – darunter die Luftfahrt, der Tourismus- und Kultur-Sektor, die Gastronomie und Hotellerie. Die Sicherheitsvorkehrungen zwangen viele Betriebe zur temporären Schliessung oder verursachten eine Mega-Flaute. Viele Mitarbeiter hatten dann zwar noch einen Arbeitsvertrag, aber nichts mehr zu tun und erhielten viel weniger Geld. Da ist es nicht abwegig über einen Branchenwechsel nachzudenken. Offene Stellen gab es schliesslich auch vor der Pandemie schon genug.
Die Gastronomie und Hotellerie gehören vielleicht auch deshalb nach wie vor zu den Branchen mit den meisten offenen Stellen. 4,3 Prozent der zur Verfügung stehenden Jobs sind unbesetzt, das gleiche gilt für die IT, der Maschinenbau folgt mit einer Quote von 3,6 Prozent. Die Schweizer Wirtschaft ist also voll im Aufschwung, aber es sind einfach nicht genug Arbeitnehmer da. Und die Lücke könnte noch drastischer werden. Denn bald gehen viele Babyboomer in Rente. Die geburtenstarken Jahrgänge von 1946 bis 1964 haben sich schon in den Ruhestand verabschiedet oder planen schon die Rente. Nachfolgende Generationen wie die Millennials können diese Lücke allein zahlenmässig gar nicht auffangen.
Ein weiteres Problem: Im Vergleich zu 2020 wandern weniger Arbeitskräfte aus anderen Ländern in die Schweiz ein. Im Jahr 2021 lag der Wanderungssaldo, also Einwanderungen minus Auswanderungen, nur bei 51.000 Menschen. Besonders Deutsche und Portugiesen wandern aus der Schweiz aus, suchen sich vielleicht wieder Jobs in der Heimat. Schliesslich ist Portugal aktuell ein wahres Boomland und in Deutschland ist der Fachkräftemangel ebenfalls enorm. Sollten sich in den kommenden Jahren noch mehr entscheiden, die Schweiz zu verlassen, wird es also noch schwieriger für Unternehmen, Stellen nachzubesetzen. Eine Hoffnung ruht auf Flüchtlingen aus der Ukraine, die Jobs in der Schweiz besetzen.
Aber wo sind denn nun alle die Fachkräfte hin?
Dazu gibt es keine aktuelle Untersuchung oder Studie. Es gibt aber allgemeine Auswertungen, die zeigen, dass Angestellte aus der Gastronomie und Hotellerie häufig ins Gesundheitswesen, sonstige Dienstleistungsbetriebe oder den Detailhandel wechseln. Wenn sich nichts Grundlegendes in der Gastro-Branche ändert, könnte sich die Abwanderung von Fachkräften verstärken – gerade jetzt, wo die Folgen der Pandemie noch in vielen Gastrobetrieben spürbar sind. Um dem Fachkräftemangel zu begegnen, muss die Branche an ihrem Image arbeiten. Denn die Arbeitsbedingungen und Löhne im Gastgewerbe sind nach wie vor nicht verlockend. Dieses Problem hat der Verband Gastro Suisse erkannt und will nun mit der Kampagne „Wir arbeiten mit Leidenschaft im Gastgewerbe“ und Fortbildungen für Gastrochefs zu den Themen Wertschätzung und Führung das Image der Branche verbessern.
In anderen Branchen ist gar nicht die Abwanderung von Top-Personal das Problem, sondern viel mehr der allgemeine Wirtschafts-Boom. So zum Beispiel in der IT: Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung dermassen beschleunigt, dass im Vergleich zum ersten Quartal 2021 rund 8000 Stellen mehr zu besetzen sind – und das, obwohl der IT-Sektor auch vorher schon händeringend nach Fachkräften gesucht hat.
Arbeitnehmer können jetzt pokern
Allgemein heisst das: Wer derzeit seinen Job wechseln möchte, hat gute Karten. Der Mangel ist in der IT, dem Gastgewerbe und Maschinenbau zwar besonders hoch – aber eigentlich sind alle Branchen mehr oder minder vom Mangel betroffen. Gut qualifizierte Arbeitnehmer können jetzt am Arbeitsmarkt Rosinen picken gehen. Und darauf reagieren die ersten Arbeitgeber. Angebote wie eine Vier-Tage-Woche zum vollen Lohn, flexible Arbeitszeiten, Sabbaticals und Co. nehmen zu. Denn irgendwie müssen die Stellen ja besetzt werden. Die Chancen, den Traumjob zu guten Konditionen zu bekommen, scheint für Wechselwillige und Arbeitssuchende aktuell so hoch wie nie.