Jetzt nur nicht durchdrehen
Viel Homeoffice, wenig Urlaub und ein dauerhaft hohes Stresslevel. Das ist seit zwei Jahren für viele Schweizer zum Standard geworden und nagt an der psychischen Gesundheit. Arbeitgeber bemühen sich nun darum, Abhilfe zu schaffen.
So viel zu tun, so wenig Zeit und der Kollege ist auch ausgefallen. Also wieder Überstunden schieben, eine Deadline jagt die andere, noch eine Mail. Wie um alles Willen soll man das eigentlich alles schaffen? Das Stresslevel am Arbeitsplatz kann ungeplant und rasant anziehen. Im schlimmsten Fall kreisen die Gedanken nur noch um die Arbeit – egal ob vor dem Schlafen, beim Aufwachen oder Einkaufen. Der Job hat einen hohen Einfluss auf die mentale Gesundheit. Zum einen verbringen Erwerbstätige viel Zeit im oder für das Unternehmen. Zum anderen hat der eigene Job einen hohen sozialen Stellenwert. Viele Menschen definieren sich über ihre Aufgaben, ihren Titel und Erfolge.
Gerät im Beruf also etwas ins Ungleichgewicht, kann das grosse Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden haben – das hat spätestens die Pandemie den Schweizern gezeigt. Während der Job für manche entspannter wurde, zum Beispiel, weil Dienstreisen oder lange Pendelstrecken weggefallen sind, wurde Covid-19 für andere zur wahren Herausforderung. Schliesslich hat nicht jeder einen eigenen Schreibtisch oder gar ein Arbeitszimmer zu Hause. Das hat sich auf die Stimmung der Schweizerinnen und Schweizer niedergeschlagen, wie gleich mehrere Studien und Umfragen zeigen.
Viele Schweizer leiden unter schweren depressiven Symptomen
Eine davon hat der Personaldienstleister Adecco durchgeführt. Das Ergebnis: 34 Prozent der Schweizer litten zwischen Frühling 2020 und 2021 unter einer zu hohen Arbeitsbelastung oder Burn-out. Damit liegt die Schweiz etwas unter dem globalen Durchschnitt (38%), aber deutlich über dem deutschen (27%). Die hohe Belastung hat sich wohl auch auf die mentale Gesundheit der Schweizer Erwerbstätigen niedergeschlagen. Laut einer Umfrage der Universität Basel ist der Anteil der Befragten mit schweren depressiven Symptomen allein von April 2020, als der Lockdown galt, bis November 2020, zweite Welle in der Schweiz, von 9 auf 18 Prozent gestiegen. Besonders hoch ist der Anteil unter den 14- bis 24-Jährigen. Von ihnen gaben 33 Prozent an schwere depressive Symptome zu haben, bei den 35- bis 44-Jährigen sind es rund 16 Prozent, bei den über 65-Jährigen sind es noch knapp sechs Prozent.
Ein weiteres Problem für Arbeitnehmer: Die dicken Augenringe, Überforderung oder Nervosität sehen Kollegen und Vorgesetzte im Homeoffice eher nicht. Dann bleibt im Meeting eben öfter die Kamera aus oder die Antworten im Chat werden knapper. Das fällt nicht so schnell auf, als wäre man im Büro. Im sozialen Miteinander nehmen Menschen Stimmungen schneller war, und sei es nur, weil man schon wieder am Schreibtisch zu Mittag isst, als erster ins Büro kommt und als letzter geht.
Anzeichen für Unwohlsein gehen im Homeoffice unter
Führungskräften haben in Zeiten von Homeoffice Probleme, die psychische Gesundheit und den Stress ihrer Mitarbeiter einzuschätzen – das bestätigen Umfragen. In der Adecco-Studie sagte mehr als die Hälfte der Manager weltweit, dass es ihnen nicht leicht falle, Anzeichen mentalen Unwohlseins oder Überarbeitung bis Burn-out bei Mitarbeitenden zu erkennen. Und wenn sie sie doch erkennen, fällt es 48 Prozent der Manager schwer, Mitarbeiter zu unterstützen, die sich überlastet sehen.
Dagegen wollen Arbeitgeber nun vorgehen. Fortbildungen für Mitarbeitende und Führungskräfte sollen dem Thema mehr Beachtung schenken und sie sensibilisieren. Diese Kurse bieten zum Beispiel Stiftungen wie Pro Mente Sana an. In sogenannten Nothelferkursen lernen Angestellte, mentale Probleme bei sich selbst oder Kollegen schneller zu erkennen und bekommen Tipps, wie sie mit der Situation umgehen können. Denn es reicht nicht, nur zu wissen, dass es einem Kollegen schlecht geht. Viel mehr gilt es dann die richtigen Worte zu wählen und so weit zu helfen, dass sich der andere nicht bevormundet, sondern unterstützt und ernstgenommen fühlt. Laut Medienberichten setzen die Swisscom, Novartis und Swiss Re bereits auf solche Nothelferkurse.
So können Arbeitnehmer selbst Initiative ergreifen
Wer nicht darauf warten will, dass der Chef aktiv wird und Fortbildungen zu mentaler Gesundheit anbietet, der kann sich auch selbst über Anlaufstellen informieren. Das ist zum Beispiel dann hilfreich, wenn Mitarbeiter bemerken, dass jemand aus dem Team mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Denn besonders bei der mentalen Gesundheit gilt: Je früher Betroffene Hilfe in Anspruch nehmen, desto schneller geht es ihnen besser – zumindest in der Regel. Da psychische Beschwerden nach wie vor stigmatisiert sind, trauen sich viele nicht, ihre Probleme offen anzusprechen oder tun ihr eigenes Empfinden ab, nach dem Motto: Es gibt Menschen, denen es viel schlechter geht. Und so geraten Betroffene immer tiefer in die Spirale. Aufmerksame Kollegen können versuchen, diesen Bann zu brechen, in dem sie auf Hilfsangebote wie der Verband „Dargebotene Hand“ oder eine Therapeuten-Suchmaschine hinweisen. Und für Notfälle gibt es das Ärztefon (0800 33 66 55).
Merken Arbeitnehmer selbst, dass ihnen der Stress sehr zusetzt und sie irgendwie Druck abbauen müssen, können sie die Tipps der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften befolgen. Die hat auf ihrer Webseite nicht nur Hinweise für ein ergonomisches Homeoffice, sondern auch Hilfestellungen für einen bewussten Umgang mit Stress, sozialer Isolation, Arbeitsorganisation und Kommunikation.