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Mindestlohn - Genug Geld zum Leben

Autor: Sarah Sommer / am

Wie hoch muss ein Lohn mindestens sein? Die Antwort auf diese Frage sollte nicht von der Meinung eines Arbeitgebers oder vom Verhandlungsgeschick der Mitarbeiter oder Gewerkschaften abhängen, finden drei Schweizer Kantone. Sie schreiben Mindestlöhne vor, die für alle Arbeitnehmer gelten. Ist das sinnvoll?

Mindestlohn

Wer in Vollzeit arbeitet, sollte von seinem Lohn auch leben können. Kein Problem im Hochlohnland Schweiz, sollte man meinen: Das Durchschnittsgehalt eines in Vollzeit arbeitenden Schweizers liegt derzeit immerhin bei rund 6.100 Franken im Monat. Mehr verdienen im internationalen Vergleich nur Arbeitnehmer in Liechtenstein und Monaco. Von ihrem Salär müssen Schweizer Arbeitnehmer ihren Unterhalt allerdings auch in einem Land bestreiten, dessen Lebenshaltungskosten zu den höchsten der Welt zählen. Wenn die Ausgaben für Wohnung, Krankenkasse, Versicherungen, Steuern und den täglichen Bedarf an Lebensmitteln und Kleidung gezahlt sind, bleibt vom Durchschnittslohn am Ende des Monats wenig übrig. Schlechte Nachrichten für die rund zehn Prozent der Erwerbstätigen, denen deutlich weniger Geld zur Verfügung steht: Sie verdienen weniger als 22 Franken pro Stunde – bei einem Vollzeit-Arbeitsplatz also weniger als 4.000 Franken im Monat.

Diese 4.000-Franken-Marke gilt seit der – gescheiterten – Abstimmung über einen schweizweiten Mindestlohn im Jahr 2014 vielen Gewerkschaftern und Politikern als Untergrenze für einen fairen Lohn, von dem ein erwachsener Mensch das tägliche Leben oberhalb der Armutsgrenze bestreiten kann. Die niedrigsten Löhne sind in vielen Branchen allerdings geringer. So betragen etwa die Mindestlöhne, die Arbeitgeber und Gewerkschaften in den Gesamtarbeitsverträgen (GAV) für verschiedene Branchen vereinbart haben, meist zwischen 3200 und 3900 Franken. Das im Frühjahr erschienene aktuelle Lohnbuch Schweiz zeigt: Den niedrigsten Mindestlohn haben Taxifahrer durchgesetzt. Ihr GAV sieht mindestens 3200 Franken im Monat vor. Unterhaltsreiniger haben am Ende des Monats mindestens rund 3422 Franken im Portemonnaie. Auch viele Tierpfleger (3500 Franken) und Landwirte (3800 Franken) können die 4000-Franken-Grenze nicht knacken.


Verbindlich sind selbst diese Lohnuntergrenzen nur in wenigen Branchen. Daher geht in jüngster Zeit der Trend hin zu gesetzlichen Mindestlöhnen. So legen einige Kantone für bestimmte Branchen, in denen die Löhne besonders niedrig sind, gesetzliche Lohnuntergrenzen in den sogenannten Normalarbeitsverträgen (NAV) fest. Mit Neuenburg, dem Tessin und dem Jura haben sich zuletzt drei Kantone entschieden, noch weiter zu gehen und einen branchenunabhängigen, kantonweiten Mindestlohn einzuführen. Ist das sinnvoll? Kann durch eine Lohnuntergrenze die Zahl der Geringverdiener reduziert werden, die trotz Vollarbeitsplatz unter oder knapp an der Armutsgrenze wirtschaften müssen? Und welche Nachteile müssen Staat, Unternehmen und Arbeitnehmer dafür womöglich in Kauf nehmen?

Der Arbeitgeberverband warnt: Die Nachteile könnten die Vorteile überwiegen. Die Argumente der Mindestlohn-Gegner: Staatliche Mindestlöhne würden die Wirtschaftsfreiheit einschränken sowie die Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften schwächen. Zudem gelte: Der Lohn, den Arbeitgeber zahlen, entspreche ohne staatliche Eingriffe der Produktivität der Mitarbeiter. Würden Unternehmen gezwungen, einen höheren Lohn zu zahlen, bleibe ihnen demnach nichts anderes übrig, als relativ unproduktives Personal zu entlassen oder den Standort in Kantone oder Länder ohne Mindestlohn zu verlagern. Das gelte insbesondere für kleine und mittelgrosse Unternehmen, die ohnehin oft nur knapp ihre Kosten decken könnten.



Mindestlohn gleich steigende Arbeitslosigkeit – diese Rechnung hatten auch die Arbeitgeberverbände und viele Ökonomen im Nachbarland Deutschland aufgemacht, als im Jahr 2015 nach hitzigen Debatten ein staatlicher Mindestlohn eingeführt wurde, der derzeit bei 8,84 Euro pro Stunde liegt. Bewahrheitet hat sich diese Sorge bislang nicht – der Arbeitsmarkt in Deutschland hat sich in den vergangenen dreieinhalb Jahren vielmehr positiv entwickelt, die Arbeitslosigkeit sinkt, die Wirtschaft brummt. Ökonomen sind sich allerdings nicht einig, ob ohne den Einfluss des Mindestlohnes der Aufschwung nicht noch dynamischer ausgefallen wäre und nicht noch mehr neue Arbeitsplätze entstanden wären. Andere Kritiker bemängeln, der deutsche Mindestlohn sei viel zu niedrig – und habe daher zur Armutsbekämpfung nicht viel beigetragen. Tatsächlich ist seit der Einführung des Mindestlohns die Zahl der Menschen, die trotz Vollzeit-Arbeitsstelle ihren Lebensunterhalt nicht ohne staatliche Hilfe bestreiten können, nicht spürbar gesunken.
Auch bei den kantonalen Mindestlöhnen in der Schweiz gilt: Über grosse Sprünge beim Salär werden sich durch die gesetzlichen Initiativen wohl nur wenige Arbeitnehmer freuen können. In Neuenburg liegt der neue Mindestlohn etwa bei 20 Franken pro Stunde. Laut Regierungsrat werden dadurch im Kanton rund 2700 Personen einen höheren Lohn erhalten. Das sind vier Prozent aller Berufstätigen – viele aus der Pflege, in Bäckereien, in der Gastronomie und dem Hotelgewerbe und bei den Coiffeuren. Die Lohnsumme im Kanton werde sich insgesamt um neun Millionen Franken oder 0,2 Prozent erhöhen, rechnen die Verantwortlichen vor. Auch im Kanton Jura stehen 20 Franken als Lohnuntergrenze im Gesetz. Im Tessin ist man sich noch nicht recht einig: Es werden 19 Franken pro Stunde als Untergrenze diskutiert.



Vor Armut, sagen Kritiker, schütze ein solch niedriger Mindestlohn nicht. Die Gewerkschaft Unia bezeichnet den im Tessin geplanten Mindestlohn gar als „Hungerlohn“, der Lohndumping fördere statt bremse. Einen weiteren Dämpfer erhielten die Mindestlohn-Befürworter Ende August: Der Bundesrat erklärte, der kantonale Mindestlohn dürfe nicht für entsandte Arbeiter aus EU-Ländern gelten. Dabei war es erklärtes Ziel der Tessiner Mindestlohn-Initiative, Lohndumping bei der Bezahlung von Arbeitern aus dem Nachbarland Italien zu verhindern, die in grosser Zahl im Tessin arbeiten. Die Argumentation des Bundesrates: Das Bundesgericht hatte im Fall des Neuenburger Mindestlohnes entschieden, ein Mindestlohn dürfe nur als sozialpolitische Massnahme zur Armutsbekämpfung eingesetzt werden – nicht aber als wirtschaftspolitische Massnahme, die sich gegen einen freien Wettbewerb richte. Daraus folgert der Bundesrat: Kantonale Mindestlöhne dürfen nicht auf das Entsendegesetz angewendet werden, in dem Arbeitsbedingungen für Kurzarbeiter aus anderen Ländern geregelt werden.
Unter dem Strich werden Mindestlöhne in der derzeitigen Form also umstritten bleiben – und voraussichtlich nur geringe Auswirkungen auf das Lohnniveau und den Arbeitsmarkt haben, im Guten wie im Schlechten. Befürworter von Mindestlöhnen erhoffen sich dennoch eine positive Wirkung der aktuellen Debatten rund um die Lohnuntergrenzen. Immerhin, so ihre Argumentation, werde dadurch ein öffentliches Bewusstsein dafür geschaffen, wie hoch ein fairer Lohn mindestens sein muss.

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