Studieren Frauen falsch?
Frauen studieren viel häufiger Geisteswissenschaften und Soziales als MINT-Fächer wie Physik, Informatik oder Ingenieurwesen. Sind sie daher selbst schuld daran, dass sie weniger verdienen als Männer?
Mathe, Informatik, Naturwissenschaften, Technik: Wer sich in Studium und Ausbildung auf diese Fächer spezialisiert, hat auf dem Arbeitsmarkt richtig gute Aussichten. Rund 70'000 Studierende sind in der Schweiz derzeit für ein solches MINT-Studium eingeschrieben – das entspricht etwa einem Drittel aller Studierenden. Viele Experten warnen: Das wird nicht ausreichen, um den Fachkräftebedarf im Land zu decken. Eine aktuelle Studie zeigt, dass MINT-Fachkräfte immer dringender gesucht werden: Auf Platz 1 des Fachkräftemangelrankings finden sich die Ingenieure, dicht gefolgt von Technik- und Informatikberufen. Auch in der Humanmedizin und Pharmazie wird der Fachkräftemangel immer spürbarer.
Wer einen Job mit sehr guten Karriere- und Gehaltsperspektiven sucht, ist also mit einer Ausbildung oder einem Studium in den MINT-Fächern richtig beraten. Allerdings wirken diese Fächer und Berufe offenbar trotzdem nicht attraktiv für eine grosse Gruppe potenzieller Auszubildender und Studierender in der Schweiz: Für die Frauen. Bis heute ist der Frauenanteil in vielen MINT-Fächern erstaunlich niedrig. In einzelnen Fächern wie der Chemie und den Life Sciences (also zum Beispiel Fächern wie Biologie, Pharmazie, Ernährungswissenschaften und Medizin) sind sie zwar schon stark vertreten: Hier liegt der Frauenanteil an den Hochschulen zwischen 43 und 53 Prozent. Ausgerechnet in den am Arbeitsmarkt besonders gefragten und entsprechend gut entlohnten Bereichen Technik (zehn bis 20 Prozent Frauenanteil) sowie Informatik (zwölf bis vierzehn Prozent Frauenanteil) sind weibliche Studierende aber stark unterrepräsentiert. Unterm Strich gehen fünf von sechs MINT-Abschlüssen an Männer. Hingegen sind in geisteswissenschaftlichen und sozialen Fachbereichen Frauen überrepräsentiert. Die Abneigung der Frauen gegen MINT-Fächer ist neben anderen Faktoren ein wichtiger Grund dafür, dass sie im Schnitt weniger verdienen als Männer. Durch die Digitalisierung dürfte sich dieser Trend sogar noch verschärfen.
Aber woran liegt es, dass Frauen sich so selten für eine lukrative MINT-Karriere entscheiden?
Sicher ist: Es liegt nicht daran, dass Frauen grundsätzlich für technische Fächer weniger begabt wären als Männer. Studien zeigen: In der Primarschule schneiden Mädchen in Fächern wie Mathematik zunächst sogar besser ab als gleichaltrige Jungen. Irgendwann ab der dritten Klasse aber verändert sich das: Dann überholen die Jungen ihre Klassenkameradinnen bei den mathematischen Fertigkeiten. Manche Forscher kommen zu dem Schluss: Mädchen seien im Schnitt gleich gut wie Jungen im Rechnen, aber oft noch besser im Lesen und Schreiben. Weil die tradierten gesellschaftlichen Rollenbilder zudem vorgeben, dass Technik eher „Jungs-Sache“ sei, hätten sie so einen starken Anreiz, ihre Energie auf nicht-technische Fächer zu richten, in denen sie brillieren können, ohne sich gegen Geschlechter-Klischees durchsetzen zu müssen.
Schreiben ist „einfach“, Mathe ist „schwer“: Dieses Denken ist weit verbreitet – und so trauen sich eben nur diejenigen an mathematische und technische Fächer heran, die generell mit einem grossen Selbstbewusstsein gesegnet sind und sich selbst als in diesen Feldern begabt wahrnehmen. Solche Vorbehalte betreffen aufgrund ihrer Sozialisation Mädchen und junge Frauen besonders. Lehrer und Professoren trauen Mädchen und Frauen zudem erwiesenermassen von Anfang an weniger MINT-Kompetenz zu.
Aber das Grundproblem betrifft ihre männlichen Klassen- und Studienkameraden ebenfalls: Generell gelten mathematische und technische Fächer vielen Menschen als besonders schwierig, als anspruchsvoll und dabei auch noch besonders trocken und spassfrei. Es hält sich hartnäckig der Mythos, dass nur besonders begabte Menschen gut in Mathe, Physik oder Informatik sein könnten.
In anderen Kulturen ist das längst anders: In Tech-Zentren wie dem Silicon Valley in den USA, aber auch in vielen asiatischen und arabischen Ländern gelten Technik-Fähigkeiten längst als cool und Tech-Jobs als besonders attraktiv, für beide Geschlechter.
Ökonomen warnen bereits, dass dieser Trend dazu führen könnte, dass weniger Tech-begeisterte Länder wie die Schweiz im internationalen Wettbewerb zurückfallen könnten – wenn es ihnen auch in Zukunft nicht gelingt, mehr Fachkräfte für den MINT-Bereich zu begeistern und besonders auch junge Frauen dafür zu gewinnen.
Wie kann es also gelingen, für mehr MINT-Begeisterung zu sorgen? Wirtschaftsredaktor Stefan Häberli schlägt in der NZZ vor, Eltern und Lehrer sollten Schülerinnen und Schülern dazu raten, nicht einfach nur einen möglichst hohen Notenschnitt in allen Fächern anzustreben, sondern auch künftige Karriere- und Verdienstoptionen zu berücksichtigen. Wem das zu kapitalistisch gedacht ist, der kann auch mit den kreativen und sozialen Gestaltungsmöglichkeiten als MINT-Expertin argumentieren: Als Klimaforscherin, Stadtplanerin, Programmiererin oder Ingenieurin lässt sich schliesslich auch gesellschaftlich einiges bewegen.
Bleibt die Frage: Lohnt sich ein Umstieg oder eine Weiterbildung in Sachen MINT auch für diejenigen, die bislang eine Ausbildung und Karriere jenseits von Naturwissenschaften und Technik eingeschlagen haben? Ein Komplett- Umstieg in eine MINT-Karriere wird sicherlich für die wenigsten Arbeitnehmer in Frage kommen. Aber die Möglichkeiten, sich neben dem Beruf, durch eine Weiterbildung oder Zusatzausbildung entsprechende Kompetenzen als Zusatzqualifikationen anzueignen, sind gross wie nie: Coding-Schulen, an denen sich etwa Programmierfähigkeiten erlernen lassen, schiessen allerorten wie Pilze aus dem Boden. Das Angebot an Umschulungen und Weiterbildungen mit einem Fokus auf IT- und Tech-Kompetenzen steigt. Zudem verändert die Digitalisierung viele Branchen grundlegend und macht es leichter, auch jenseits traditioneller Karrierepfade als Quereinsteiger in andere Branchen und Fachbereiche zu wechseln – sofern man Tech-Schlüsselqualifikationen mitbringt, die bislang in vielen Unternehmen noch fehlen.
Daher gilt für Mädchen und Frauen ebenso wie für Jungs und Männer: Weniger Angst vor Technik und Mathematik zahlt sich aus – nicht zuletzt auf dem Gehaltszettel.