Lohnt sich Arbeiten noch?
Seit drei Jahrzehnten sinken die Lohnquoten weltweit. Das heisst: Arbeitnehmer bekommen einen immer geringeren Anteil der gesamten Wirtschaftsleistung, während der Anteil der Kapitaleinkommen steigt. Die Schweizer Wirtschaft widersetzte sich dem Trend lange – doch nun scheint sich auch hierzulande das Blatt zu wenden.
Manchmal ist es von Vorteil, langsam zu sein und Trends zu verschlafen. Zu diesem Schluss müssen Arbeitnehmer in der Schweiz kommen, wenn sie ihre Situation mit der von Lohnempfängern in anderen Industriestaaten vergleichen. Denn während in anderen europäischen und angelsächsischen Ländern die Lohnquote seit den frühen Neunziger Jahren manche Ökonomen sagen gar: schon seit den 1940er Jahren immer weiter fällt), blieb das Verhältnis von Lohn- und Kapitaleinkommen in der Schweiz stets stabil.
Das heisst: Während anderswo die Arbeitnehmer immer weniger von der Wirtschaftsleistung abbekamen, sich Niedriglohn-Sektoren ausbreiteten und die Mittelschicht über sinkende Einkommen klagte, konnten sich Schweizer Arbeitnehmer freuen, einen stabilen Anteil des Wirtschaftserfolgs abzubekommen.
Nun könnte man meinen, dass die Schweizer einfach produktiver sind als Arbeitnehmer in anderen Ländern. Ganz so einfach ist die Rechnung aber nicht. Hier geschieht vielmehr „international sehr Aussergewöhnliches“, wie zuletzt die Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) feststellte. Das Wachstum der Reallöhne habe in den letzten Jahren sogar das gesamtwirtschaftliche Wachstum der Arbeitsproduktivität übertroffen, stellen die KOF-Ökonomen fest. In den Lehrbüchern der Ökonomen ist ein solcher Fall gar nicht vorgesehen. Sie gehen davon aus, dass Arbeitnehmer ihren Lohn immer nur in dem Masse erhöhen können, wie sie auch ihre Produktivität steigern. Nicht so die Schweizer – sie verdienen einfach immer mehr, ohne ihre Leistung in gleichem Masse zu steigern. Was ist da los? Und: Kann dieser – für die Arbeitnehmer ja erfreuliche – Trend andauern?
Die Erklärungen, die Ökonomen für das Phänomen der stabilen Schweizer Lohnquote heranziehen, klingen erst einmal wenig schmeichelhaft. Sie kommen nämlich zu dem Schluss, dass die Schweiz internationale technologische Trends wie die Digitalisierung der Arbeitswelt, den Internet-Boom und Umwälzungen der Weltwirtschaft wie die Globalisierung zunächst verschlafen hatte. Das führte dazu, dass man in der Schweiz weitgehend unbeeindruckt weiterarbeitete, wie man es gewohnt war, während in anderen Ländern seit den 1990er Jahren der Siegeszug von Computern und die neuen Möglichkeiten der Online-Kommunikation dafür sorgten, dass Routinetätigkeiten zunehmend von Maschinen übernommen oder in Niedriglohnländer outgesourct wurden. Grosse, international tätige IT- und Internet-Konzerne entstanden. Der Druck auf die Löhne wurde vielerorts immer stärker, die Politik reagierte mit Deregulierung, neue Niedriglohn-Bereiche entstanden. Derweil blieben im Schweizer Informations- und Kommunikationstechnologiesektor durch staatliche Anbieter geprägte Strukturen lange unangetastet, es bewegte sich nicht viel. Auch die Gewerkschaften verloren hierzulande nicht so schnell und so stark an Einfluss wie in anderen Industrienationen. Eine Studie des Weltwährungsfonds (IMF) belegt diesen Zusammenhang: Die fallenden Lohnquoten in den meisten Industriestaaten sind vor allem mit technischem Fortschritt (50 Prozent) und mit den Auswirkungen der Globalisierung (rund 25 Prozent) zu erklären.
Während sich also anderswo Niedriglohnsektoren bildeten, profitierten die Schweizer Arbeitnehmer davon, dass ihre Wirtschaft der globalen Entwicklung hinterherhinkte. Anschliessend holten sie auf und ernteten dank des vergleichsweise hohen Bildungsniveaus die Früchte der digitalen Revolution: Hoch qualifizierte Arbeitskräfte in wissensintensiven Branchen nutzen anderswo entwickelte Computertechnologie, um damit komplexe und kreative Produkte und Dienstleistungen zu erstellen.
Die Krux bei der Geschichte: Grosse, international erfolgreiche Internetkonzerne sind auf diese Weise in der Schweiz nicht entstanden. Die Innovationen und Produktivitäts-Sprünge finden heute bei international agierenden Grosskonzernen statt, deren Vorsprung kaum noch einholbar erscheint.
Und: Es gelingt der Schweiz immer weniger, sich von den internationalen Entwicklungen abzukoppeln. Kaum eine Branche kann sich der aktuellen Digitalisierungs-Welle nachhaltig entziehen. Lohnprognosen für das laufende und das kommende Jahr deuten darauf hin, dass trotz weiter wachsender Wirtschaft die Beschäftigten in der Schweiz mit stagnierenden Löhnen rechnen müssen. Derweil werden sich die Vermögenseinkommen aller Voraussicht nach sehr positiv entwickeln. Ist der Trend zu sinkenden Lohnquoten um Jahrzehnte verzögert nun also auch in der Schweiz angekommen? Und falls das so sein sollte: Welche Lehren lassen sich aus den Erfahrungen anderer Länder ziehen? „Sicher ist, dass sich auch in Zukunft Investitionen in Bildung und Qualifikation auszahlen werden“, sagt Tobias Egli, Chef des Portals lohncheck.ch. „Denn entscheidend wird die Frage sein, ob es Schweizer Arbeitnehmern gelingt, durch die Digitalisierung produktiver und innovativer zu werden – oder ob sie die Entwicklung erneut verpassen.“
Was ist die Lohnquote?
Den Anteil des Arbeitnehmerentgelts (Bruttolöhne, -gehälter, Sozialbeiträge des Arbeitgebers) am gesamten Volkseinkommen nennt man Lohnquote. Da Lohneinkommen in der Gesellschaft gleichmässiger verteilt sind als Kapitaleinkommen, die sich auf wenige Personen konzentrieren, gibt die Lohnquote einen Hinweis darauf, wie gleich oder ungleich die Einkommen in einem Land verteilt sind.
In der Schweiz betrug der Anteil der Löhne am Gesamteinkommen seit den neunziger Jahren konstant zwischen 65 und 70 Prozent. In Ländern wie Frankreich, Italien, Japan, USA oder Schweden dagegen sank die Lohnquote in den letzten 30 Jahren deutlich von 65 bis 70 Prozent auf 55 bis 60 Prozent.